Mein fremdes Leben by Ferris Joshua

Mein fremdes Leben by Ferris Joshua

Autor:Ferris, Joshua
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Verlag
veröffentlicht: 2014-09-08T16:00:00+00:00


Ersatz-Israel

Kapitel 6

Mitte August. Der Ball war in der Luft, aber ich ließ die dritte Base nicht aus dem Auge. Deshalb erneuter Termin bei Sookhart, diesmal mit einem offiziellen Auftrag. Er sollte mir ein komplettes Manuskript der Kantavetikel beschaffen.

»Interessante Sache«, sagte er und streichelte den Pelz auf seinem Arm. »Aber ich muss Ihnen sagen, ich bin skeptisch. Ich habe in dieser Sache mit etlichen Kollegen gesprochen, allesamt Experten auf ihrem Gebiet, aber keiner hat je von so etwas gehört, auch nicht von überlebenden Nachfahren der Amalekiter. Und wohlgemerkt, das sind studierte Historiker, Bibelkundler, Kuratoren und Händler wie ich. Überall Fehlanzeige.«

»Wie viele Experten hätten Sie denn gern, um an die Existenz der Kantavetikel zu glauben?«

»Das ist eine gute Frage. Wenn es wenigstens einen gäbe.«

»Angenommen, es gäbe diesen einen …«, sagte ich. »Worauf ich hinauswill, ist Folgendes: Wie viele Historiker, Bibelkundler oder sonstige Experten bräuchte es eigentlich, um so etwas wie die Kantavetikel zu einem reellen Forschungsgegenstand zu machen?«

»Mein lieber Freund«, sagte er und ließ von seinem Arm ab, um seiner Antwort Nachdruck zu verleihen. »Der Mensch hat von Anbeginn der Zeit mit größter Inbrunst an die verquersten Sachen geglaubt. Die Zahl ist nicht ausschlaggebend.«

»Aber in der Religion schon, oder?«, sagte ich. »Ich meine, wo jeder stichhaltige Beweis fehlt, wird die Anzahl entscheidend. Wie viele Leute sind erforderlich, um etwas zu einem offiziellen Glaubenssystem zu machen?«

»Welches Glaubenssystem meinen Sie?«, fragte er. »Den Glauben daran, dass es sich bei Mithras um den Sonnengott handelt? Oder dass der Kriegsgott Ninurta zugleich der Stadtgott von Babylon ist? Oder dass Re allmorgendlich den Angriff der Schlangengottheit Apophis abwehrt, um mit seiner Tochter Maat in der Sonnenbarke durch den Himmel zu kutschieren? Oder dass Thor mit seinem Hammer die Schädel der Frostriesen spaltete? Oder dass die Maden in Ymirs verwesendem Leib zu Dunkelelfen wurden? Dass Kronos seinen Vater Uranos mit einer Sichel entmannte und das abgeschnittene Geschlecht ins Meer warf, woraus Aphrodite geboren wurde? Dass Iapetos als Titan des Westens nicht nur der Vater aller Angelsachsen war, sondern auch Noahs Sohn? Dass Jahwe den Uzza zu Recht zu Tode schlug, weil der in seiner Vermessenheit die kippelnde Gotteslade angefasst hatte? Dass Gott die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben?«

»Ja, so was in der Art«, sagte ich.

»Okay, in einem gebe ich Ihnen recht. Der Unterschied zwischen zehn Glaubensanhängern und zehn Millionen ist bedeutsam«, sagte er. »Bei zehn Gläubigen nennen wir es einen Kult, bei zehn Millionen eine Religion. Ich persönlich finde diese Zahlenspielerei zwar unerheblich, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die Dinge ohne eine Mindestmasse an Gläubigen schon leicht irre werden.«

»Wenn Sie mich fragen, werden die Dinge mit der Anzahl der Gläubigen sogar noch irrer.«

»Aber versetzen Sie sich mal in die Lage eines Historikers«, sagte er. »Bei allem Respekt vor meinen Historikerfreunden, sie alle sind wie die Geier, ohne Ausnahme. Sobald sich irgendwo eine neue Entdeckung auftut, stürzen sich alle darauf, bis auch das letzte Fitzelchen zerpflückt ist. Ich mache ihnen keinen Vorwurf daraus.



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